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Narkissos

Er lag auf Knien und blickte in die Quelle,
sein Trost hieß Nacht, sein Elend Tageshelle,
die nun den Schleier riß von seinem Bild,
das Bildnis seines Jammers einzufangen:
das fahle Antlitz und die hohlen Wangen.
Die Schönheit seiner Jugend war verspielt,
er war gebrochen an Gestalt und Mute,
und Fieberhitze war in seinem Blute,
die Schwindsucht trank sein Blut und fraß die Lunge.
So rief er laut in seiner Pein: “Narkissos!”
Narkissos!
gab Antwort in den Bergen Echos Zunge.

Verbittert mußte er sein Bildnis sehen.
“Ist nicht genug, daß Qual mich läßt vergehen,
muß sie in allem wohnen, was ich seh?
Ich sehe, höre, kenne bloß Narkissos,
ich hasse und ich liebe dich, Narkissos,
und was ich seh, ist nichts als Leid und Weh!
Ich habe nichts zu wollen und zu wählen,
und liebe nur zu hassen und zu quälen,
was peinigst du zu Tode mich, Narkissos?”
Und Echo rief bedrückt zurück: Narkissos!
Narkissos!
und tausendfach aufs neu: Narkiss   –   Narkissos!

Da sah er Schleier aus den Wolken fliegen
und eine Nymphe an den Quell sich schmiegen,
sie war so lieblich, schön wie Milch und Blut,
hielt seinen Hals mit ihrem Arm umfangen
und mit dem Munde koste seine Wangen
und sprach: “Narkissos, sei ein Mann mit Mut,
sieh! dieses Bild ist nur die düstre Quelle,
sei guten Muts und dich dem Wettstreit stelle,
mit Hellas’ Jugend miß dich ohne Bangen
–   gewinnst du nicht, so hast du mich, Narkissos!”
Narkissos!
die sanften Stimmen aus den Bergen sangen.

Er strich aus seiner bleichen Stirn die Strähne,
er lächelte und küßte seine Schöne,
vergaß die Quelle und sein eignes Bild.
Und in den Auen klang ein leises Raunen,
und gellte lautes Lachen von den Faunen,
es war ein Johlen, jauchzend hell und wild.
Und Aphrodite brach den Zauber wieder,
goß neue Kraft in seine schwachen Glieder
und wallte auf sein Blut in frischer Welle.
“Es hat die Liebe dich geheilt, Narkissos!”
Narkissos!
sang Echo sterbend in der dunklen Quelle.



 Gustaf Fröding, Schilf, Schilf, rausche. Ausgewählte Gedichte
 übersetzt von Klaus-Rüdiger Utschick, ©1999