; Nils Ferlin. Im Labyrinth des Lebens. Übersetzung: Klaus-Rüdiger Utschick 

Selbstportrait

Självporträtt

Vater hatte auf dem Nachttisch, erinnere ich mich, viele Medikamente und Abenteuerbücher. Er hat wohl in seinen Tagen auch andere Bücher gelesen – viele, möchte ich vermuten, aber nun las er, um schlafen zu können. Manchmal erzählte er von Urgroßvater, der Geigen baute und Bären jagte und einmal während einer Hungersnot Wasser in Milch verwandelte. Einen ganzen Bach. Und wenn er schoß, meinte man, er schieße mit Zauberkugeln. So dürfte auch eine Spur Finnenblut in seinen Adern geflossen sein. Wie auch immer, und ich weiß nicht wie, aber wenn ich groß bin, dachte ich, will ich auch ein Bärenjäger werden. Die Geigen hingegen kümmerten mich weniger. Und groß wurde ich allmählich, aber da gab es keine Bären mehr.

Nun gebe ich als Beruf an: Schriftsteller. Was mir allerdings lächerlich vorkommt. Ich habe mich auch schon als Gelegenheitsarbeiter bezeichnet, wie Seemann, Bürstenbindereiarbeiter, Eisenarbeiter, Buchhandelsgehilfe und ein bißchen von allem – pfarramtliche Bescheinigungen habe ich also jede Menge. Nichts habe ich indes gelernt und nichts habe ich, wovon ich sprechen könnte. Im sogenannten Dasein bin ich herumgeschnurrt wie ein Hamster in seinem Rad. Aber ich habe starke Männer getroffen, die mir erzählt haben, wie alles zusammenhängt: die Sonne, der Mond und die Sterne, der Bandwurm und der Mensch. Es ist die einfachste Sache der Welt für den, der versteht. Reichstagsabgeordnete habe ich beobachtet: Alles begreifen sie. Das Kleinste ebenso wie das Größte. Ich hatte kurzzeitig eine Anstellung bei einem Lumpensammler. Er wurde Zwölfgroschen genannt, wenn ich ein bißchen lüge. Er war ein großer Philosoph und ein bitterer Kerl. Wir machten einmal ein größeres Papiergeschäft, kauften ein paar Wagenladungen Reichstagsprotokolle aus dem Nachlaß eines ziemlich bekannten Abgeordneten. “Hältste sowas aus!” sagte Zwölfgroschen. “Denk, daß die das können!” Und wir philosophierten viel.

Ach, Worte, ja, und Papier! Und nun bin ich selbst da hinein gestolpert. Schriftsteller nenne ich mich – wie gesagt, und Herr Schriftsteller sagt man: Ist der Herr Schriftsteller zu Hause? – Kameraden vom Militär treffe ich, Leute, die man aus den Augen verloren hat, Schulkameraden vielleicht, und dann hauen sie mir auf den Rücken und plaudern mit mir: Wirst du bald ein neues Buch herausbringen? und: Wie hieß doch dein letztes gleich wieder? – usw. Aber eigentlich habe ich nur zwei Stück Bücher geschrieben in meinem ganzen unruhigen Leben, und entstanden sind sie mehr so nebenbei. Nebenbei von was? Nebenbei von nichts – wenn der steuerzahlende Leser gestattet. Nebenbei von Nichtstuerei.

Ich wanke durch stolze Städte
in Lärm und Sonne und Wind,
betrachte ein Schild, einen Blumenkorb,
einen Leichenkutscher, ein Kind,
sehe Leute, die bleich sind und stille,
und Leute moderneren Stils,
und ich taumle verwirrt zur Seite
vor dem Horn eines Automobils . . .

Nichts tue ich also. Nichts anderes als schauen. Und, möglicherweise, denken. Manchmal kann es auch passieren, daß ich trauere. Am meisten trauere ich um mich selbst, aber – aufrichtig gesagt, die übrige Menschheit tut mir ebenso leid. Wohin ist sie unterwegs, und was hat sie vor?

Nils Ferlin, 1937