Lieder der Langeweile
Eine Erinnerung aus Deutschland.
In der Nähe des Riesengebirges liegt ein stattlicher palastartiger Bau, umgeben von Nebenbauten und Parkanlagen. Er gleicht einem alten Herrensitz, doch wenn man durch das Tor tritt, so gleicht er eher einer Kaserne, wenn auch einer vornehmen Kaserne für die Oberschicht. Es gibt lange Korridore mit numerierten Türen, hinter denen sich stets die gleiche Einrichtung findet – vergleichsweise geschmackvoll und solide, doch immer ein wenig kasernenmäßig. Es ist in der Tat so etwas wie eine Kaserne – eine Kaserne für die Invaliden der Gesellschaft, für die Versehrten und Geschlagenen des großen kontinentalen Gesellschaftslebens. Hierher kommen die Schönheiten aus Wien, die zu Ende getanzt haben, preußische Offiziere aus Berlin, deren stramme Haltung an den Vergnügungen des Weltstadtlebens zerbrochen ist, Bankiere und Juristen, die sich im Dienst der Geldkaste halb zu Tode geschleppt haben, und Schriftsteller und Künstler, die ihre Gesundheit mit nervöser Arbeit und allerhand Stimulierungs- und Betäubungsmitteln ruiniert haben. Alle Berufe, alle Rangklassen außer den niederen und niedersten, sind hier repräsentiert, alle Altersstufen beiderlei Geschlechts. Es gibt sogar Nervenkranke unter zwanzig Jahren, die die Sündenstrafen ihrer Eltern zusammen mit deren vornehmen Namen oder stattlichen Vermögen geerbt haben. Ein besonderer Bau mit Schule und Spielzimmern ist eingerichtet für diese Hypochonder und Hysteriker in Miniatur.
Das Leben an diesem Platz hat nicht viel Ähnlichkeit mit dem halb blasierten und dösenden, halb lebensfrohen Gewimmel in einem üblichen Kurort. In den Brunnen- und Badeorten hat die große Mehrzahl kaum irgendwelche Gebrechen. Viele kommen dorthin nur, um sich zu amüsieren. Die Kranken sind nicht beherrschend für die Stimmung, sondern finden sich dort nur als eine mehr oder minder starke Färbung ins Dunkle in dem allgemeinen farblosen Flaneurdasein.
Hier ist es nicht so. Hier ist die Krankheit der allmächtige Herrscher – der herrscht in jeder Faser und Zelle, in den Blicken aller Augen, der spricht in allen Sprachen und seufzt in jedem angsterfüllten Atemzug des Schmerzes in schlaflosen Nächten.
Unter anderen betrübten Bewohnern dieser Kaserne für Nervenkranke weilte hier vor einigen Jahren der Verfasser der “Lieder der Langeweile.” Einer der letzten Funken in der Hölle der Hypochonder ist der Humor, mal verdüstert zum hohläugigen, matt lächelnden Galgenhumor, mal erniedrigt zum angestrengten Versuch eines verlebten Bajazzo, mit närrischen Kapriolen den Zuschauern ein Lachen abzuringen. Es war wohl diese Stimmung, in der “die Lieder der Langeweile” entstanden. Ich las zu dieser Zeit Heinrich Heine wie eine Art Gesangbuch zu Trost und Erbauung in der Betrübnis, wurde ergriffen vom gleichen spöttischen, traurig-lustigen und respektlosen Geist, der einmal den melancholisch lächelnden Dichter selbst beseelte, fühlte mich zur Nachbildung angespornt und vermochte in der Tat mit meinen “Liedern” das eine oder andere dunkle Lächeln bei meinen deutschen Unglücksgenossen hervorzulocken.
Gustaf Fröding, Schilf, Schilf, rausche. Ausgewählte Gedichte
übersetzt von Klaus-Rüdiger Utschick, ©1999