;
Von 1908 bis 1914 ging Nils in die sechsjährige Realschule, d. h. er besuchte eigentlich nur den Unterricht, der ihn interessierte. Zusammen mit einem Schulkameraden schwelgte er in den freien Stunden in klassischer schwedischer Lyrik, lernte unglaublich viel auswendig, vor allem Gustaf Fröding. Aber die beiden Jungen hatten auch andere Interessen. Beide waren Elitesportler, ihre Darbietungen waren nahezu professionell. Später verlegte sich Ferlin sogar aufs Boxen.
Nils versuchte sich in vielen – heute würden wir sagen – Jobs, schon daheim in Filipstad und später auch in Stockholm, wo die Familie seit 1916 lebte. Dort machte er, zunächst als Statist, seine ersten Bühnenerfahrungen. Gleichzeitig besuchte er eine renommierte Schauspielschule. In den 20er Jahren ging er mit einer Schauspieltruppe auf Tournee. Künstlerisch und finanziell war diese Zeit zwar nicht gerade erfolgreich; der Erfolg stellte sich jedoch bald ein beim Vorlesen seiner eigenen Gedichte – seine geschulte Stimme war sein Kapital.
Durch die Bühne kam Ferlin zur Poesie. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren die Blütezeit von Revue und Kabarett, der volkstümlichen Unterhaltung vor der Zeit des Rundfunks und des Fernsehens. Schon als Zwanzigjähriger debütierte Nils mit zwei Liedertexten, und es wurden schnell mehr. In den Jahren 1918 bis 1930 gab er zehn kleine Hefte mit Revueliedern heraus, alle mit lokalem Bezug auf Filipstad, außerdem sechs Scherzzeitungen.
Auch für rein handwerkliches Verseschmieden war er sich nicht zu schade, so reimte er zum Beispiel Verse für Gratulationskarten, die in Deutschland gedruckt wurden:
Ich hab ein Paket nach Nürnberg geschickt,
mit Worten gut und schön,
jedes Wort ist klug, jedes Wort ist wie Gold
und für eine Mark zu erstehn.
Von Anfang an gehörten für ihn Poesie und Musik zusammen. Die frühen Revuelieder gaben ihm das Gefühl für Form und Rhythmus und wurden damit zur Grundlage seiner reifen Gedichte.
Nie gehörte Ferlin zu einer jener Gruppen junger Literaten, die modernistische Formprobleme diskutierten, er schrieb auch nie Artikel für Zeitschriften. Er kam aus dem Nirgendwo, irgendwann war er plötzlich da. Ein Schwager kannte den Dichter Karl Asplund, und dieser sprach mit Sten Selander, dem Literaturberater des marktbeherrschenden Buchverlags Bonniers. 1930 erschien dort der erste Gedichtband Ferlins, die Lieder eines Totentänzers.
So wie Ferlin außerhalb jeder literarischen Richtung stand, so schloß er sich auch nie einer politischen Partei an. Er verspottete zwar oft die Erfolgreichen, die Angepaßten, aber er war kein Sozialist. Bei einer Gelegenheit nannte er sich selbst “Anarchist”. Er hatte ein Herz für die Außenseiter, für die Versager, auch für die Kriminellen (vielleicht aufgrund seines Umgangs mit den Gangs seiner Jugendjahre in Filipstad), aber diese gehörten ja keiner Organisation an. Der eine oder andere Kritiker hätte ihn gern sichtbarer auf den Barrikaden gesehen.
Seine Selbständigkeit, seine Freiheit, alles und jeden zu kritisieren, war ihm unbedingt wichtig. Durch den Schulunterricht, in dem Wert gelegt wurde auf Sprachwissenschaft und auf die Klassiker der Literatur, war seine Ausgangssituation eine andere als die der Arbeiterdichter jener Jahre, die Autodidakten waren wie z.B. Dan Andersson und die Literaturnobelpreisträger Eyvind Johnson und Harry Martinson. Er war eine einsame Gestalt auf dem schwedischen Parnass.
Ferlin, wie vor ihm Fröding, “verkleidete” sich gerne, spielte gerne Rollen. Immer waren es ähnliche Rollen: der Vagabund, der Hausierer, der Clown, der Zirkusartist, der fahrende Spielmann, der schon im Mittelalter Freiwild für jedermann war. Der Rummelplatz und der Jahrmarkt waren für ihn natürliche Symbole des Daseins.
Einige Elemente seines ästhetischen Programms sind auch bei Zeitgenossen anzutreffen. Die gleiche Verankerung im modernen Alltag finden wir bei seinem Dichterkollegen Hjalmar Gullberg: Was gestern in der Zeitung stand, ward ein Gedicht in meiner Hand.
Vielleicht war das zeittypisch, anonym von Süden her ins Land gekommen, mit Erich Kästner und Bert Brecht? Wie dem auch sei, mit seinem “antipoetischen” Stil muß Ferlin in den 30er Jahren provozierend, ja schockierend gewirkt haben; dies bezeugt sein Kollege Lars Forssell, Mitglied der Schwedischen Akademie. Doch müssen wir eins bedenken: Wir lesen Ferlin heute nicht mehr so, wie man ihn vor 70 Jahren las. Wir haben andere Erfahrungen und sind weniger leicht schockiert.
Die legendenumwobenen Jahre im Stockholmer Bohème- und Zeitungsviertel “Klara” setzten Ferlin schwer zu. Der unbehauste, schwierige Poet – als Adresse, unter der er am sichersten anzutreffen war, galt das Café Cosmopolite – wurde Alkoholiker, war oft krank.
Aber 1945 heiratete er und zog aufs Land.
Nach den drei Gedichtsammlungen der 30er Jahre – seinen besten – schrieb er nicht mehr so viel. Das Leben, das er so oft angeklagt hatte, behandelte ihn mitleidslos. Ein schwerer Gelenkrheumatismus machte es immer mühsamer, die Feder zu führen. Der Pessimismus in seiner Dichtung war geblieben; der Ausdruck seiner Einsamkeit und Trostlosigkeit war einfacher und unverhüllter als früher. Doch inzwischen war er populär geworden, jede Neuerscheinung erreichte Rekordauflagen.
Daß Ferlins Gedichte so viel gelesen werden, erscheint angesichts ihrer Aussage merkwürdig: Das Dasein ist hart und unbegreiflich, die Menschen sind oberflächliche und unsichere Neurotiker, verführt vom technischen Fortschritt, einäugig streben sie nur nach materiellem Wohlstand; sie sind Akteure in einem traurig-verrückten Maskenspiel.
Kann eine so düstere Sicht des Lebens das Publikum derart faszinieren? So paradox es klingen mag: Vielleicht ist es gerade das! Als der Gedichtband Mit vielen bunten Laternen vor 20 Jahren neu aufgelegt wurde, schrieb Tage Danielsson ein Vorwort in Versform. Er beginnt folgendermaßen:
Es erlosch der Laternen Gefunkel –
ein Gott hat gelächelt dabei –
da entzündetest du in dem Dunkel
die bunten Laternen aufs neu.
Ich glaube, daß Ferlins Popularität zwei Ursachen hat. Die erste ist er selbst. Er trat als der Bohémien par excellence auf, so wie der Mann auf der Straße sich einen richtigen Künstler vorstellt. Er hatte zwar bis 1936, als seine Mutter starb, ein Zuhause, aber danach war das so eine Sache mit seiner Postadresse. Sie war meistens “Poste restante”. Die Mythen über diesen sorglosen Poeten, Stepptänzer, Armdrücker, Raufbold und Saufbold wurden immer wilder. Ganz Schweden schloß ihn ins Herz. Er war auf seine Weise ein guter PR-Mann für seine Gedichte.
Die zweite, fast ebenso wichtige Ursache sind die Vertonungen. Mit ihrem Rhythmus, ihrer “Wortmusik” sind Ferlins Gedichte wie dazu geschaffen, gesungen zu werden. Als sie in den 40er Jahren vertont wurden, waren sie bald in jedermanns Mund. Manch einer entdeckte, daß das keine Schlager waren, sondern Poesie.
Filipstad, im Januar 2002
Knut Warmland