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Als Carl Michael Bellman am 4. Februar 1740 in Stockholm das Licht der Welt erblickt, ist er der jüngste Sproß der vor zwei Generationen aus dem Bremischen eingewanderten Familie Bellman. Er wächst in einer Stadt auf, die noch nicht zu den großen europäischen Metropolen gehört. Sie hat nur 70000 Einwohner, ist aber politisch, kulturell und wirtschaftlich eng mit den anderen Ländern Europas verbunden. Man spricht schwedisch, aber auch französisch und deutsch; und Vaterlandsliebe und Nationalstolz stehen nicht im Gegensatz zur selbstverständlichen kosmopolitischen Einstellung. Die Schwedische Akademie zeigt sich beeindruckt vom Klassizismus französischer Prägung; deutschstämmige Musiker wie Josef Martin Kraus halten die Verbindung mit dem europäischen Musikleben aufrecht; französische Schauspielertruppen sorgen dafür, daß die neuesten Couplets der opéra comique in Stockholm fast ebenso schnell bekannt werden wie in Paris. Die äußeren Einflüsse bleiben nicht ohne Wirkung auf die überlieferten Wertvorstellungen. Man fängt an, sich über bestimmte Erscheinungsformen des Gesellschaftslebens lustig zu machen, die der Leichtlebigkeit und rokokohaften Verspieltheit der Zeit nicht mehr gemäß sind. Vor allem die altehrwürdigen, den Pomp und das Zeremoniell liebenden Ritterorden werden zur Zielscheibe des Spotts.
Wie überall in Europa gibt es Arme und Reiche, aber die Auswirkungen einer verfehlten Wirtschaftspolitik treffen auch diejenigen, die dem Mittelstand angehören, und zwingen sie, Lebensformen zu entwickeln, die sich von denen der gesellschaftlichen Unterschicht nicht wesentlich unterscheiden. Als Angehöriger der gehobenen Mittelschicht hat Carl Michael zwar Bildungschancen, die andere nicht haben – Musik, Rhetorik, Sprachen sind selbstverständliche Bestandteile seiner Erziehung – , zwar öffnet ihm seine Herkunft viele Türen, aber Herkunft, Begabung und Bildung sind noch lange keine Garantie für den gesellschaftlichen Aufstieg. Der Erfolg ist an das Wohlwollen hochgestellter Persönlichkeiten, an die Beachtung der poetischen Regeln und des “guten Geschmacks” und an materielle Voraussetzungen geknüpft: Wer z.B. die hohen Druckkosten scheut, kann nicht verhindern, daß sich andere seines geistigen Eigentums bemächtigen. Bellman erfüllt zunächst keine dieser Bedingungen. Er sucht statt dessen sein Publikum in den ärmlichen Spelunken Stockholms und gibt Trink- und Sauflieder zum besten, die von den traditionellen Themen Wein, Liebe und Tod handeln. Doch schon früh sprengt er den Rahmen des Herkömmlichen. Was auffällt, ist vor allem die unnachahmliche Art, in der er Saufszenen, wie sie in jeder Kneipe vorkommen, in eine szenische Form bringt und mit Personen “besetzt”, die als Stockholmer Originale bekannt sind und jener verarmten Mittelschicht angehören, aus der er selbst stammt.
Die Hauptperson und der Mittelpunkt dieses fiktiven Geschehens ist der Uhrmacher “ohne Werkstatt und Laden” Jean Fredman, der sich als Nachfahre des Apostels Paulus versteht. Das Evangelium, das er verkündet (in Form von sogenannten Episteln), ist eine im weltlichen Sinne frohe – ja fröhliche – Botschaft, die zum Genuß des Lebens und seiner Freuden auffordert. Ulla Winblad ist die weibliche Hauptfigur und die Geliebte Fredmans (was nicht ausschließt, daß sie ihre Gunst auch gelegentlich anderen erweist).
Ein dankbares Publikum hat Bellman auch, wenn er die Ordensgesellschaften mit ihren veralteten Zeremonien persifliert und vor allem die pomphaften Begräbnisrituale der Lächerlichkeit preisgibt. Aber seine Popularität bleibt vorläufig auf einen kleinen Kreis von Gleichgesinnten und Eingeweihten beschränkt.
Bald tauchen “Fredmans Episteln” und “Fredmans Gesänge” in den Liedersammlungen des Bürgertums auf und machen als Gassenhauer die Runde. Bellman ist in einer gewissen Weise berühmt, ohne die Bedingungen des traditionellen Kulturbetriebs erfüllt zu haben. Nun wird auch der König, Gustaf III (der den Beinamen “Theaterkönig” erhalten hat), auf den Sänger aufmerksam und lädt ihn zu seinen Künstlertreffs ein, obwohl Bellmans Dichtung einigen Mitgliedern der hochangesehenen Schwedischen Akademie als “Wirtshauspoesie” verdächtig ist. Bellman erscheint, gibt ein paar Proben seiner Kunst, wird prompt mit Aufträgen bedacht und erhält zudem eine Anstellung an einer königlichen Behörde. Dennoch hat Bellman nicht ausgesorgt, zeitlebens schlägt er sich mit den Gläubigern herum, die ebenfalls zu den wiederkehrenden Gestalten der Fredmandichtung gehören. Den verfeinerten, aus dem Wirtshaus ins Freie verlegten Episteln mit ihren oft vorromantischen, empfindsamen Zügen, werden weiterhin die deftigen, handlungsstarken Nummern der frühen Zeit vorgezogen, die Bellman Gelegenheit geben, seine stimmlichen, imitatorischen und mimischen Fähigkeiten auszuspielen: Er glänzt in den Salons der Patrizierfamilien mit Episteln, derentwegen er einst vom gehobenen Bürgertum verfemt wurde. Der Druck seiner gesammelten Episteln im Jahre 1791 bringt nicht den erhofften finanziellen Erfolg. Mit dem Tode Gustafs III. – er fällt auf einem Maskenball einem Attentat zum Opfer – verliert Bellman seinen großen Förderer. Er kommt in Schuldhaft, beginnt zu kränkeln und stirbt schließlich 1795, in ähnlich ärmlichen Verhältnissen wie Mozart, auf dessen Tod er wenige Jahre zuvor eine Ode verfaßt hat.
Das Phänomen Bellman hat Generationen von Literatur- und Musikwissenschaftlern beschäftigt. Viel wurde gesagt über seine an episches Theater erinnernde Vortragsweise, die Suggestivität und den Bilderreichtum seiner Sprache und die geradezu kabarettistische Schärfe seiner Beobachtung. Man muß die Episteln auf sich wirken lassen, um zu verstehen, warum sie alle Erwartungen, die man an einen Text des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu stellen pflegt, übertreffen und in einer Weise zeitlos sind, wie dies nur bei den großen Werken der Weltliteratur der Fall ist.
Dr. Hans Ritte lehrte bis 1996 am Institut für Nordische Philologie der Universität München. Als Forscher mit dem Spezialgebiet Gesellschaftslied ist er mit einer Reihe von Arbeiten über Bellman hervorgetreten. Der Text ist Rittes Vorwort zu Carl Michael Bellmans Werke, Bd. 1, (c)1998, Anacreon-Verlag