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Gustaf Fröding im Alter von 20 Jahren
Im Jahr 1890 hält sich ein junger Mann aus Schweden als Patient in einer Nervenklinik am Fuße des Riesengebirges auf. Um über seine Krankheit, eine tiefgehende Depression, hinwegzukommen, schreibt der 30jährige in deutscher Sprache seine von Heinrich Heine inspirierten “traurig– lustigen” Lieder der Langeweile.
Gustaf Fröding, so heißt der junge Mann, beginnt sein Dichterleben also mit Gedichten in deutscher Sprache! Im folgenden Jahr 1891 debütiert er mit dem Gedichtband Gitarr och dragharmonika. Es ist eine Lyrik, die mit ihrer treffsicheren natürlichen Sprache und ihren fließenden Rhythmen begeisterten Anklang bei den Lesern findet. Fröding entstammt einer großbürgerlichen Familie, deren Angehörige in verfallenden Herrenhäusern wohnen und kleine, kaum noch rentable Manufakturen und Fabriken betreiben. Gustaf hatte eine Zeit lang in Uppsala studiert, ohne jedoch ein Examen abzulegen. Er hat schließlich eine Anstellung als Redakteur bei einer kleinen radikalen Zeitung gefunden, die sich für Stimmrecht und Glaubensfreiheit einsetzt. Fröding führt das Leben eines Bohemien, er trinkt viel und sucht bisweilen Damen mit zweifelhaftem Ruf auf.
Fast zeitgleich mit Fröding legt Selma Lagerlöf (1858 – 1940), wie dieser aus Wermland stammend, ihren Erstlingsroman “Gösta Berling” vor. Drei Jahre zuvor hat Verner von Heidenstam (1859 – 1940) mit seiner Gedichtsammlung “Vallfart och vandringsår” die Tür aufgeschlagen zu einem goldenen Jahrzehnt der Lebensfreude in der schwedischen Literatur.
Gustaf Fröding im Alter von 40 Jahren
Am Ende dieses Jahrzehnts gilt Fröding mit seinen weiteren Gedichtsammlungen – Nya dikter (1894) und Stänk och flikar (1896) – als der bedeutendste lebende Lyriker Schwedens. Im darauf folgenden Lebensjahrzehnt verschlimmert sich sein psychischer Zustand; Fröding nimmt die Wirklichkeit nur mehr eingeschränkt wahr, und sein poetisches Feuer glimmt nur noch schwach. Sein Körper ist von Krankheit und Alkohol ausgezehrt. Einen Eindruck davon bekommt man in dem, wohl nicht zur Veröffentlichung gedachten, tagebuchartigen Gedicht Schemen und Stimmen. 1911 schließt der insbesondere von seinen wermländischen Landsleuten geliebte Dichter für immer die Augen. König und Ministerpräsident, Gewerkschaften und Studentenbünde folgen seinem Sarg.
Fröding berichtet in seinen Gedichten manches über sich und sein Leben. Wir machen einen Streifzug durch das Heimatdorf des Dichters und damit in die Welt und die Märchen seiner Kindheit. Wir sehen ihn wieder im Jünglingsalter: Der Ball versammelt die Angehörigen der höheren Gesellschaftskreise und führt den jungen Mann mit Fräulein Elsa Örn zusammen, dem Mädchen seiner Jünglingsträume. Wir lernen die unglückliche Dolores di Colibrados kennen, die deutliche Züge seiner Mutter trägt. Wir schmunzeln über die Seitenhiebe auf die deutsche Romantik, von deren Pathos ihn Ein kleines deutsches Mädchen befreit. Im Vorwort zu seinen Liedern der Langeweile zeichnet er das Bild der zerfallenden Gesellschaft im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und mit seiner Innenwelt-Betrachtung Ein Ghasel gestattet uns der Dichter schließlich einen Blick in seine gepeinigte Seele.
Gut Alster, heute Fröding-Museum
Fröding gibt uns Einblicke in die damaligen Lebensverhältnisse in seinem Heimatland Schweden, teils vergnüglich und humorglitzernd, teils düster und beklemmend. Wir ergötzen uns an der Charakterisierung kerniger Figuren der Geistlichkeit, als da sind: Unser Probst und Seine Eminenz der Bischof von Växjö. Wir werden mitgerissen vom nächtlichen Tanzvergnügen der Jugend in einem wermländischen Dorf: Es war Tanz Samstagnacht. Wir blicken zurück in “Die gute alte Zeit” und auf das soziale Elend der Arbeiter eines Hammerwerkes in Mittelschweden. Wir werfen einen verstohlenen Blick auf den alten Anders, der am Schicksal seiner Tochter Elin zerbricht. Dann ist da Blitz, der Schornsteinfeger. Und da torkelt Der Poet Wennerbom mit der Buddel in der Hand an uns vorbei. Oder ist es etwa der Dichter selbst?
Fröding läßt Geschichte und Mythologie lebendig werden und gibt den Ereignissen mitunter eine beklemmend aktuelle Deutung. Aus der Tiefe einer stillen Bucht schimmert das versunkene Atlantis herauf. In einem Traumbild erscheint uns Der Schmied. Es ist Wieland, er schmiedet das Schwert, das die Mächtigen dieser Welt vernichten wird. Aus dem Traum erwacht, erblicken wir statt der einsamen Schmiede im Wald eine düstere Fabrik und ausgemergelte Arbeiter. Wir sehen einen todkranken, verzweifelten jungen Mann sein Spiegelbild in einer Quelle betrachten – wir erkennen in ihm den an der Ich-Sucht leidenden Narkissos. In Frödings Version wird er schließlich durch die Liebe der Quellnymphe geheilt. Wir sind im Heerlager der Griechen nach dem Perserkrieg zu Gast bei Xenophon und hören seine Betrachtungen Aus der Anabasis. In einer italienischen Stadt betritt ein stolzer junger Mann eine Taverne, fröhlich von den Freunden begrüßt; es ist Benvenuto Cellini, eines der Genies der Renaissance. In einer vom Schneesturm umtosten Kirche kniet der greise norwegische König Sigurd, der Jerusalemfahrer, der in Gedanken noch einmal zu einem Kreuzzug in den Süden aufbricht. In dem Zyklus Aus König Eriks Liedern hören wir den hochbegabten, doch gemütskranken, in Mord und Verbrechen verstrickten König Erik XIV von Schweden. Fröding spürte auch in seiner eigenen Seele immer wieder das Dunkle und Unheilvolle; er ist Calibariel – zugleich Ariel und Caliban ...
Gustaf Fröding im Alter von 50 Jahren
Frödings Weltsicht wird in der Sage vom Gral deutlich: Gute wie Böse werden durch die Liebe erlöst werden. Träume im Hades lassen den Schatten eines Ritters der Artusrunde vor uns erscheinen, mit dem sich die Königin in sündiger Liebe vereinigte und dafür den Tod erleiden mußte. Dem priesterlichen Verdikt der ewigen Verdammnis setzt der Ritter die Gewißheit entgegen: “Einst wird ein Befreier kommen ...” Schuld und Strafe hat auch Ein armer Mönch aus Skara auf sich geladen. Doch obschon gebannt und für vogelfrei erklärt, findet er seine Seelenruhe wieder im Erleben der Natur, ihre Schönheit und Majestät “gaben die Liebe mir wieder.” Er weiß nun: Einmal werden alle Menschen, die in der Flut des Bösen ums Überleben kämpfen, einander die rettende Hand reichen. In dem schon genannten Gedicht Der Ball drückt Fröding seine Zuversicht aus, daß Gott allen Menschen ein liebevoller Vater ist und der Tod nicht das Ende des Daseins sein wird.
Am 9. Oktober 1896 wurde die erste Auflage von Stänk och flikar wegen angeblicher Unsittlichkeit des Gedichtes Ein Morgentraum beschlagnahmt; da waren aber die meisten der 4200 Exemplare bereits verkauft. Am 27. November wurde Fröding vom Vorwurf der Unsittlichkeit freigesprochen; trotzdem fehlte das Gedicht in der zweiten Auflage.
Das Gedicht ist mehr als ein Liebesgedicht. Fröding beschwört das Idealbild einer Gesellschaft, in der alle Menschen frei und gleich sind; Frödings “Arier” sind adelig durch ihre eigene Würde, nicht etwa dadurch, daß sie Schwächere unterdrücken. Als Gegenbild zeichnet er die Gesellschaft von Atlantis, in der die Kaste der Mächtigen und Reichen durch Machtmißbrauch und Kriege, Ausbeutung und Unterdrückung den Untergang herbeiführt.
Der Erzählstil Frödings ist unverwechselbar. Seine Balladen bestehen oft aus mehreren Abschnitten, die jeweils ihren eigenen Rhythmus haben: hier den ruhigen Erzählton langer, fünf- oder sechshebiger Verse, dort das eilende Stakkato kurzer, zweihebiger Verse. Schon beim Lesen erschließt sich das, was in Schweden “Wortmusik” genannt wird.
Viele von Frödings Gedichten haben zur Vertonung gereizt und wurden als Lieder volkstümlich, zum Beispiel das von Jean Sibelius eindringlich vertonte Säv, säv, susa: Schilf, Schilf, rausche. Großen Anklang fand in neuerer Zeit Torgny Björks Vertonung und Interpretation von neununddreißig Liedern Frödings (1972). Sie zeigt auch, wie sehr Fröding heute noch die Menschen anspricht. Manche seiner Lieder gelten bereits als Volkslieder, wie Tre trallande jäntor: Drei trällernde Mädchen. Es ist ein Lied, das in Schweden so volkstümlich ist wie Goethes “Heideröslein” im deutschsprachigen Raum.
Die Übersetzungen entstanden als Widerhall eines lesenden Erlebens – und eines hörenden Erlebens! Ob Naturschilderungen oder mythisch-religiöse Betrachtungen, ob tragische oder heitere Geschichten, stets faszinierte den Leser der frische Natursinn und der freie und unangestrengte Stil von Gustaf Fröding. Ich hoffe, einen Schimmer davon in diesen Übersetzungen bewahrt zu haben.
München, im August 1999
Klaus-Rüdiger Utschick