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Johan Henrik Kellgren galt in Schweden zu seiner Zeit als der unbestrittene Richter in Geschmacksdingen und war selbst einer der führenden Dichter des Landes. Mit seinem Spottgedicht “Anakreon, wo ist Dein Lob?” hatte er sich als kampflustiger Kritiker von Bellman gezeigt. Doch Kellgren erkannte bald, daß Bellman nicht nach hergebrachten Schablonen beurteilt werden kann. 1790 schrieb er das klassisch gewordene Vorwort zu Fredmans Episteln.
Hervorragende Verfasser (von anderen ist nicht die Rede) haben wohl daran getan, im Interesse der Poesie wie ihrer eigenen Ehre zu Lebzeiten selbst ihre Arbeiten zu sammeln und herauszugeben. Vielleicht gibt es einen noch besseren Weg: diese Vorsorge mit seinen Freunden zu teilen.
Eines Verfassers wahre Freunde sind die, welche, vereint durch den Geschmack für dieselben Dinge, eine Seele haben, seine Schriften vollkommen zu erfassen und wertzuschätzen, Mut, Opferbereitschaft zu bestärken, Neigung, eher zu nützen als zu schmeicheln; die ihn also lieben, mehr noch als ihn aber seine Ehre .
Oft genügt es nicht für die Ehre eines Autors, daß man über ihn spricht, weil er etwas geschrieben hat, es ist zuweilen auch nötig, daß man ihn freispricht, weil er etwas nicht geschrieben oder, was dasselbe ist, nicht gebilligt hat: Denn welcher Verfasser kann sagen wie Gott: Alles, was er gemacht hatte, war sehr gut!?
– Doch ist man, im gelehrten wie im allgemeinen Sinne, nur Vater der Kinder, die man selbst anerkennt.
Mit diesen Überlegungen sei gesagt, daß das Werk, dessen erster Teil nun der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird, kein unbesehen zusammengerührter Brei ist von allem, was der Autor verfaßt hat, nur dazu bestimmt, dem Verleger Gewinn zu bringen, sondern vielmehr eine Ausgabe für den gebildeten Leser, eine vom Dichter selbst und gemeinsam mit seinen Freunden überarbeitete, geprüfte und ausgewählte Sammlung seiner unsterblichen Arbeiten.
Eines jeden Autors Schriften, die im Laufe vieler Jahre auf simplen, lose herumfliegenden Blättern verstreut wurden, laufen leicht Gefahr, entweder verlorenzugehen oder mißhandelt, verstümmelt und sogar ihrem Autor abgesprochen zu werden; um wieviel mehr bestand diese Gefahr bei Schöpfungen eines Genies, die selten in der Ruhe des Schreibtischs entstanden, sondern in einem stürmischen Freudentaumel gleich in ihrer Geburtsstunde aus der Hand des Verfassers flogen, um nie dorthin zurückzukehren, die sich in Hof und Hütten verbreiteten und vom Munde des Kundigen wie des Unkundigen weitergereicht wurden, Schriften, die also nur im unsicheren Gedächtnis bewahrt oder auch von eifersüchtigen Sammlern versteckt wurden; sie wieder hervorzuholen, zu sammeln und zu vergleichen, das verlangte Hand und Auge des Verfassers selbst.
Was aber allein durch das Gedächtnis weitergegeben wurde, was darum am leichtesten mit der Zeit verlorengehen, vertauscht, verdorben werden konnte, war die Musik zu diesen Werken. Man weiß, daß die meisten von ihnen eine Ehe eingegangen sind mit schon bekannten Melodien; andere gibt es jedoch, die den gleichen Schöpfer haben wie die Verse, und fast alle haben mehr oder minder Änderungen und Verbesserungen durch den Dichter erfahren. Sie für ewig der Nachwelt zu bewahren, bedurfte es einer geschickten Hand, um sie ein für alle Male nach des Autors Stimme auf Papier zu übertragen; dies ist nun auch geschehen.
Sicher kennt man den Wert dieser Gedichte nur zur Hälfte, wenn man sie bloß als Gedichte kennt. Nie zuvor waren Dichtkunst und Tonkunst schwesterlicher vereint. Es sind nicht Verse, die zu dieser Musik geschrieben wurden, noch ist es Musik, die zu diesen Versen gesetzt wurde, ein jedes hat sich so vollkommen in den Reiz des anderen gekleidet, beide haben sich so zu EINER Schönheit zusammengefügt, daß man kaum sehen kann, welchem von beiden das andere mehr zu seiner Vollkommenheit fehlen würde: die Verse, um recht verstanden zu werden, oder die Musik, um recht gehört zu werden.
Unglücklich der, der kein Auge und kein Ohr hat, diese Werke zu beurteilen; verbrecherisch aber der, der es wagt, nach gewöhnlichen Regeln zu untersuchen, was unvergleichlich ist, was ohne Muster war und ohne Nachfolge bleiben wird. Und diese Dichtungen ganz eigener Art, nicht angelegt nach einem überlegten Plan, nicht Vers um Vers aufgebaut, zusammengesetzt, poliert, sondern Augenblicksschöpfungen, Freudenausbrüche, Früchte wahrer Eingebung, die, wenn ich so sagen darf, wie aus einem Guß dem Flammenschoße der Schöpferkraft entsprungen sind – hat man wohl das Recht, sie Arbeiten zu nennen? sie als verfaßt anzusehen? sie an den allgemeinen Regeln der Verskunst zu messen? Sage nicht, du kühler Leser, dies oder jenes sei ein Vergehen gegen die Sprache, den Geschmack ... Besitzt du das Gefühl des Dichters, das Herz eines Jünglings, so liebe, trinke, singe, und du wirst sehen, wie diese Fehler sich in Geniestücke verwandeln – oder du wirst sie überhaupt nicht sehen.
Es gibt andere Gesetze, heilige Gesetze: die des Anstands, die der guten Sitten... Man verwechsle diese beiden Dinge nicht miteinander!
Der Anstand kam; und die Sitten verschwanden.
Nie hat man je lauter nach Anstand gerufen, und nie sind die Sitten – so würde der Deklamator ausrufen – verdorbener gewesen. Das ist falsch, übertrieben; es hat Zeiten gegeben, in denen beide, der Anstand und die Sitten, verschwunden waren; und ist nicht der erstere ein Zugeständnis an die letzteren? – Aber wir müssen auch zugeben, daß die guten Sitten nicht gerade zunehmen; während an ihr Äußeres, ihr Gewand oder ihre Maske, ihren sichtbaren Ausdruck in Form, Sprache und Schrift, kurz an den Anstand, täglich strengere Anforderungen gestellt werden.
Was diesen Anstand in Sprache und Schrift betrifft, so scheint hier wie bei vielen anderen moralischen Begriffen die Auffassung der Allgemeinheit noch wenig gefestigt zu sein. Sicher ist auch, daß diese Auffassung von Stand zu Stand, von Klasse zu Klasse wechseln wird, ja muß, je nach den verschiedenen Sitten und der unterschiedlichen Bildung. Es kommt jedoch auch zwischen Menschen der gleichen Gesellschaftsschicht oft vor, daß der eine etwas als höchst unanständig verurteilt, was der andere als eine erlaubte Freiheit betrachtet. Was ist der Unterschied? – Ich will meinen Gedanken mit einer kleinen Geschichte veranschaulichen:
“Vor einiger Zeit befand ich mich in einer zahlreichen Gesellschaft beiderlei Geschlechts, was man so die gute Gesellschaft nennt, ja sogar Gesellschaft des guten Tons. Ein junger Mann trat ein; sein Aussehen schon stimmte fröhlich. Er sprach – man war entzückt. Er erzählte von einigen Abenteuern ziemlich leichtfertiger Natur, und er verwendete eine äußerst freie Ausdrucksweise; aber all das geschah mit einem Witz, der nur Bewunderung hervorrief; die tollen Sprünge, die flüchtige Leichtigkeit, und vor allem die Fröhlichkeit, die einem keine Zeit ließ zu erröten, weil man lachen mußte, und dann war es schon zu spät dazu, und der Scherz war nur noch Erinnerung und ein neuer folgte. Selbst die Sittenwächter, ernsthafte Würdenträger, ehrbare Matronen, alt und jung, alle hörten zu und lachten, alle feierten diesen Mann und baten ihn zu bleiben.
Durch dieses Beispiel verführt, glaubte ein anderer Mann aus der Gesellschaft, er könne mit einem gleichen Spaß den gleichen Erfolg ernten. Aber die ähnlichsten Dinge sind einander immer sehr unähnlich. Was die Natur verweigert hat, sucht die Kunst vergebens zu ersetzen. Seinen Gesichtszügen fehlte das lebhafte Mienenspiel, diese feurige Sprache der Seele, die oft deutlicher oder besser spricht als die Sprache selbst, die hier einen Ausdruck verstärkt, da ersetzt, was fehlt, dort die Eindeutigkeit verschleiert, die ein Zuviel bedeuten würde. Sein Ton war schleppend, seine Gebärden gezwungen. Das gab seinem Scherz den Ausdruck des Gewollten, wodurch ein Einfall nie lustig wirkt, obwohl er lustig ist, und immer verletzt, wenn er frivol ist. Seine Art und Weise schien bei jedem Einfall zu sagen: Hört her, wie witzig! und nachdem er ihn losgeworden: Lacht ihr nicht? Und sie schien zu warnen, daß jetzt etwas komme, worüber man erröten müsse; und darum errötete man über alles. Unschuldiges wurde zweideutig, Zweideutiges plump.
Bald begannen alle Fächer zu fächeln, alle Stirnen sich zu runzeln, alle Münder zu gähnen. Die Frauenzimmer bekamen ‘migraine’, und verließen eine nach der anderen das Zimmer. Die Männer begannen sich über andere Dinge zu unterhalten. Der unglückselige Spaßvogel schlich sich davon, und der Gastgeber gab ihm mit bedeutsamer Miene zu verstehen, daß er in diesem Hause nicht mehr willkommen sei.” – Es ist gewiß wahr, daß der Scherz des zweiten, was die Sache betraf, die guten Sitten nicht mehr verletzte als der des ersten. Der Unterschied lag in der Art und Weise.
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Wie in der Subskriptionsliste erwähnt, beabsichtigte man zunächst, diese Arbeiten unter dem allgemeinen Titel Der Schwedische Anacreon herauszugeben, ein Name, der dem Verfasser schon vor langem gegeben wurde, ihm aber vielleicht nicht genug Ehre antut. Es stimmt, beide Dichter haben die gleichen Dinge besungen, Wein und Liebe, und beide haben vortrefflich gesungen; das ist jedoch alles, was sie gemeinsam haben. Sie haben auf dasselbe Tuch gemalt, waren von demselben Geist beseelt; aber doch: welch Unterschied der Zeichnung, der Farben, der Formen und Stellungen der Figuren, der Wahl der Szenen! Zart, leicht, verführerisch, fein der eine, der andere taumelnd, heftig, staunenerweckend, reich. Diese beiden miteinander zu vergleichen, hieße einen Wasserfall, seine Sprünge, seinen brausenden Schwall über Feld und Flur, mit einer Quelle vergleichen, die sich sanft und ohne tosende Wogen durch die Wiese schlängelt.
Man könnte vielleicht, was den Stil betrifft, mit mehr Fug und Recht unseren Skalden den Schwedischen Pindar nennen, so kühn ist sein Gedankenflug, so reich seine Phantasie. Doch lassen wir diese Vergleiche. Sie sind oft schädlich, immer falsch. Durch sie sind Verfasser, nur einseitig von einer verhältnismäßig schwächeren Seite gesehen, vom Kritiker mit einer Strenge verurteilt worden, die den Anschein der Ungerechtigkeit hatte. Laßt uns nie vergessen, daß jedes wahre Genie seine eigene ursprüngliche Form haben muß, daß es nichts anderes sein kann als sein eigenes Selbst; daß die nutzlose Frage, ob Verfasser einander gleichen, oft zu der verhaßten Frage führt, wem von beiden der Vorzug zu geben sei, und daß diese Frage nie entschieden werden kann; daß Genies als unendliche Größen betrachtet werden müssen und als solche nicht meßbar sind; und daß vor allem die Allgemeinheit nicht deren Maßstab besitzt. Wir werden dann finden, daß der höchste Ruhm für jeden hervorragenden Dichter, für Bellman wie für Anacreon, der ist: Der eine war — Anacreon; der andere ist — Bellman .
Möge man mir noch eine Wahrheit gestatten!
Wenn Künstler, obwohl von Natur aus Freunde und getreue Richter, dies nicht immer sind, so liegt eine Hauptursache hierfür zweifellos in dem falschen und beschränkten Urteil der Allgemeinheit, ihrer Gewohnheit zu vergleichen, ihrem Hochmut gegenüber dem Rang des Genies, und ihrem allzu geringen Vermögen, dem einen Achtung zu erweisen, ohne sie dem anderen zu entziehen.
Stockholm, den 6. Oktober
1790.
J. H. KELLGREN